Historische Entwicklung

Der Umgang mit Armut hat sich im Verlauf der Zeit verändert. Er orientiert sich stets an der sozioökonomischen und politischen Situation der Gesellschaft und ist abhängig von normativen Wertvorstellungen im jeweiligen Kontext. Im historischen Rückblick lässt sich die Entwicklung des Armutsverständnisses in der Schweiz anhand einiger massgebender Ereignisse nachvollziehen. 

Armut als Privatsache
Im Zuge der Industrialisierung wuchs die Zahl der sozial benachteiligten Menschen rapid. Es herrschte die weitverbreitete Meinung, Armut sei selbstverschuldet. Wer arm war, galt als schwach und faul und wurde von der Gesellschaft verstossen. Erst mit der Krise 1870 machte der Staat erste Versuche zur wirtschaftlichen Regulierung. Arme Menschen, insbesondere Frauen, Kinder, Betagte und Kranke wurden als Randständige in besonderen Einrichtungen weggesperrt. Strukturell bedingte Armutsrisiken blieben trotz zunehmender Arbeitslosigkeit und wachsendem Elend weitgehend unerkannt. 


Die ersten Sozialversicherungen
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen die ersten Sozialversicherungen auf. Sogenannte Hilfskassen gaben ihren Mitgliedern gegen eine Prämie Absicherung von Lohnausfällen wegen Unfall und Krankheit. Sie waren aber hauptsächlich auf Erwerbstätige ausgerichtet, bis neue Kassen auch Alters-, Witwen- und Waisenrenten anboten. Um die Jahrhundertwende etablierten sich in der Schweiz die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung sowie eine Invaliden- und Altersversicherung. Beide garantierten einen Rechtsanspruch auf Leistungen. Sie funktionierten als individuelle Daseinsvorsorge, waren obligatorisch und wurden durch die Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert. 


Ausbau der Sozialwerke
1913 nahm das Bundesamt für Sozialversicherungen seine Tätigkeit auf. Diese Bundesstelle wurde im Zuge des Ersten Weltkrieges notwendig, als sich die sozialen Konflikte nach Kriegsausbruch verschärften und Armut kein Randphänomen mehr war. Kantone und Gemeinden ergriffen in Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Vereinen Massnahmen zur Versorgung der betroffenen Bevölkerung. Der Staat unterstützte primär die Arbeitslosenfürsorge.
Während des zweiten Weltkrieges wurde der Fokus auf die Stärkung der Sozialwerke gelegt und der Ausbau einzelner Versicherungszweige rückte in den Vordergrund. AHV, IV, Ergänzungsleistungen, Arbeitslosenversicherung und Berufliche Vorsorge wurden sukzessive eingeführt.

 
Hilfe zur Selbsthilfe
In der Nachkriegszeit erlebte die Schweiz einen Aufschwung und die öffentliche Fürsorge traten in den Hintergrund, da es den meisten gut ging. Unterstützung durch den Sozialstaat musste nicht mehr flächendeckend betrieben werden und die Sozialwerke gingen vermehrt auf die Bedürfnisse der Einzelpersonen ein. Auch mit der Einführung der IV und AHV wurde erreicht, dass weniger Menschen von der Fürsorge abhängig waren und ihre Existenz eigenständig sichern konnten. Trotz Lohnwachstum und Vollbeschäftigung gelangten jedoch nicht alle zu Wohlstand. Weswegen in den 70er Jahren die Einzelfallabklärung gefördert wurde und individuelle Hilfspläne zur Förderung der Selbständigkeit Kontrolle und Disziplinierung ablösten. Die Abgabe von Naturalien wurde durch Geldleistungen ersetzt und die Versorgung in Anstalten ging zurück. Erstmals tauchte die Idee des Sozialen Existenzminimums auf, das neben den Grundbedürfnissen auch die Eingliederung in die Gesellschaft garantieren soll. 

Mehr zur Geschichte der Sozialen Sicherheit in der Schweiz finden sie auf der Website «Geschichte der Sozialen Sicherheit».

Letzte Änderung: 24.02.2020